Olympischer Internationalismus
Mit dem Ausspruch „All Games, All Nations" und dem weltweiten Wandern der Olympischen Spiele steht die Bewegung gemeinhin für enge internationale Beziehungen, einen interkulturellen Austausch und lebhafte Völkerverständigung. Der Internationalismus als Teil der Olympischen Idee ist dabei programmatischer Rahmen, normativer Anspruch, wie auch große Herausforderung zugleich.
In der interkulturellen Interaktion wird dem Internationalismus vielfach eine scheinbar verbindende, grenzüberschreitende sowie konfliktüberwindende Kraft zugesprochen. Vor allem im Blick auf die Bewältigung globaler Herausforderungen erfährt der Internationalismus eine große gesellschaftspolitische Relevanz.
Bei der Vermittlung des Internationalismus kommt der Internationalen Olympischen Akademie (IOA) in Griechenland eine besondere Bedeutung zu. Bei verschiedenen, jährlich wiederkehrenden Veranstaltungen kommen seit 1961 z.T. mehr als 200 Teilnehmer aus über 100 Staaten zusammen. Trotz diverser staatlicher, religiöser, kultureller oder ethnisch bedingter Konflikte in der Welt wird an der IOA eine internationale Kooperation scheinbar vorbildlich gelebt, die anderswo kaum denkbar ist. Die IOA gleicht dabei einer „ideellen Insel", „olympischen Enklave" oder einem „globalen Mikrokosmos". Damit bietet sich an der IOA eine einzigartige Untersuchungssituation an, die einer Art „Laborexperiment" entspricht. Mittels einer empirischen Studie wurden ehemalige IOA-Teilnehmer (n>650) aus über 120 Nationen zum „Internationalismus" befragt, die sich im olympischen Kontext kennengelernt haben. In der vorliegenden Studie steht der „Internationalismus" als kognitiver Entscheidungsprozess und wertrationales Handeln im Vordergrund. Auf der handlungstheoretischen Basis von Kroneberg wird v.a. der Frage nachgegangen, wie sich der „Internationalismus" als kooperative Entscheidung bzw. Wahlhandlung selbst vollzieht.
Die Ergebnisse haben gezeigt, dass die ehemaligen IOA-Teilnehmer unter dem „Internationalismus" eine „internationale Kooperation unter Gleichen" verstehen und hiermit „Freundschaft", „Solidarität", „Freiheit", „Gleichheit" und „Universalität" verbinden. Dabei bezieht sich der „Internationalismus" nicht nur auf die IOA, sondern auch auf die Olympische Bewegung sowie auf Kulturen und Gesellschaften insgesamt. Die IOA wird von den Teilnehmern als eine „Subsinnwelt"/idealer Ort für den „Internationalismus" angesehen, v.a. im Blick auf die Gemeinsamkeiten im olympischen Sport, die Motivation zu einen internationalen Austausch sowie die (einander verbindenden) olympischen Normen und Werte. Im kognitiven Entscheidungsprozess wird der Internationalismus auf der „Frame", Skript- und Handlungsebene vorrangig selegiert, jedoch nicht primär im „reflexiv-kalkulierenden Modus". Auf der „Frameebene" handelt es sich um den „automatisch-spontanen Modus", auf der „Skriptebene" hingegen liegen etwa gleiche Selektionsgewichte der beiden Modi vor. An der IOA kann bei ca. 40 Prozent der befragten Teilnehmer von einem wertrationalen Handeln (in typischen, intern. Handlungssituationen) ausgegangen werden.
Der „Internationalismus" ist letztlich das, was die IOA-Teilnehmer daraus machen. Der Entscheidungsprozess spielt (mit der Tiefe der Informationsverarbeitung) bei der Wahlhandlung eine zentrale Rolle. Der selegierte Handlungstyp und Rationalitätsgrad müssen im Blick auf die jeweiligen Situationsanforderungen bewertet werden. Bezüglich der Nachvollziehbarkeit und nachhaltigen Akzeptanz kommt dem Internationalismus als wertrationales Handeln eine besondere Rolle zu. Der olympische Internationalismus stellt eine große Chance für eine internationale Verständigung und grenzüberschreitende Mündigkeit dar.
Dr. Karsten Liese (Autor)
aus "Der olympische Internationalismus als kognitiver Entscheidungsprozess und wertrationales Handeln im Model der Frame-Selektion", Sportverlag Strauß, 2015.