Werte in Sport, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft

Festredner Juergen KaubeFestvortrag zum zehnjährigen Jubiläum der Deutschen Olympischen Akademie

von Jürgen Kaube, Herausgeber der FAZ

 

 

Meine Damen und Herren,

Sport, das ist Gegenwart: physische Präsenz und Geistesgegenwart. Es gibt wenige öffentliche Tatbestände, die uns so sehr wie der Sport, der selbst betriebene wie der beobachtete, auf Augenblicke fokussieren. Sport ist aber auch Erinnerung. Wann immer wir über ihn sprechen, rufen wir sie auf. Wir könnten jemanden gar nicht erklären, was es mit dem Sport auf sich hat, wenn wir keine Ankedoten erzählen würden.

Das gilt auch für unser Thema. Erinnern Sie sich noch an Karl Schranz? Die Älteren womöglich schon. Der österreichische Skirennläufer mußte 1972 aus dem olympischen Dorf von Sapporo ausziehen, weil dem IOC ein Foto zugespielt worden war. Es zeigte Schranz in einem T-Shirt, auf dem der Name einer Kaffee-Firma stand.

Ich erinnere das sehr lebendig. Es wurde damals in den Familien heftig diskutiert, was das zu bedeuten habe und ob das in Ordnung sei: einen Sportler dafür zu bestrafen, dass er sich etwas dazuverdiente. Für das IOC war jene Fotografie nämlich ein weiterer Beweis für seinen Verdacht, dass es sich bei Schranz nicht um einen echten Amateur handelte. Die Regeln dafür, was ein Amateur sei, waren damals streng. Man untersagte Werbung, legte fest, wieviel Trainingstage überhaupt zugelassen waren, später kam man sogar auf die Idee, die Sportler müßten etwaige Einnahmen auf ein Konto legen, das erst nach ihrer Karriere für sie zugänglich sein sollte.

Natürlich wurden all diese Regeln, wenn es ging, umgangen. „Man hätte alle ausschließen müssen“, meinte Schranz darum im Blick auf die Bedingungen, unter denen auch damals Leistungssport auf olympischem Niveau betrieben wurde, „aber man nahm“, sagte er in aller Bescheidenheit, „den Populärsten.“

Meine Damen und Herren, Sie haben um einen Vortrag über Werte gebeten. Wieviele Werte sind in dieser sporthistorischen Anekdote angesprochen? Erfolg und Leistung – Fairness und Gerechtigkeit – Wohlstand – Gesetzestreue – Vergleichbarkeit – Popularität.

Was sind Werte? Wenn wir den alltäglichen Sprachgebrauch zugrundelegen, sind Werte Messgrößen, die auf einer Skala eingetragen werden. Der ph-Wert beispielsweise gibt an, wie sauer eine wässrige Lösung ist. Ein Wert setzt sich also zusammen aus einer Zahl und einer Interpretation. Der Zahl selber sieht man nicht an, dass die Lösung sauer ist. Dazu bedarf es einer Vorstellung davon, was sie bedeutet. In der medizinischen Diagnostik ist das vielleicht am handgreiflichsten. Hier signalisieren Werte, ob Gefahr vorliegt und Handlungsbedarf besteht. Aber das gilt auch für andere Lebensbereiche. Wenn eine Zahl zum Wert wird, ist vorher festgelegt worden, welche Folgen es hat, wenn sie sich ergibt. Der CO²-Wert: wieviel davon in der Luft. Der Laktatwert: wieviel Milchsäure im Blut.

Werte sind insofern doppelt relativ. Sie sind relativ auf eine Größe wie das Blut, die Luft, das Wasser. Und sie sind relativ, weil sie sich ändern können und tatsächlich ständig ändern. Gemessen wird ja gerade, weil man mit solchen Änderungen der Werte rechnet: Bluthochdruck, Abgaswerte, Restwertberechnung bei Vermögensobjekten.

Als bloße Zahlen sind Werte harmlos. Auf den entsprechenden Skalen festgehalten, dienen sie aber dazu, diese Zahlen mit anderen Zahlen zu vergleichen. Eine Zahl als Wert zu behandeln, heißt schon, sie einem Vergleich auszusetzen. Sie haben einen Cholesterinwert von X, normal wäre Y, gefährlich wird es bei Z.

Das sind die Messwerte, deren Extrem die Grenzwerte sind. Gegenüber den Grenzwerten gibt es die Grundwerte. Sie werden nicht gemessen, zu ihnen wird sich bekannt.

Hier sind Werte „Gesichtspunkte des Vorziehens von Zuständen oder Ereignissen“ (Niklas Luhmann). Jemand tut etwas, und das Heranziehen eines Wertes erlaubt es, das Getane mehr oder weniger gut zu finden. Mehr oder weniger gerecht, effizient, gesund, ehrlich und so weiter.

Die Bewertung sagt beispielsweise: das war ein Rekord. Eine andere entgegnet: Das war ein Verstoß gegen die Dopingregeln. Wieder eine andere: Das schadet wahrscheinlich deiner Gesundheit. Aber trotzdem, sagt die nächste Bewertung, steigert das deinen Marktwert. Und schließlich ergänzt jemand: Was immer es war, es war vor allem eine faszinierende Aufholjagd nach Alp d’Huez.

Ob das Tun richtig war oder nicht, ist durch Werte allein also unentscheidbar. Denn auf der einen Skala ist es unrichtig, auf der anderen richtig. Leistungssport ist selbst diesseits des Dopings oft ungesund, aber zugleich bewundernswert. Er ist, sofern große Erfolge erzielt werden, in einzelnen Disziplinen wirtschaftlich ertragreich, in manchen führt er zu Prominenz, im Sport selbst führt er in die Annalen. Für die Umwelt sind Olympische Spiele eine Herausforderung, für den Tourismus sind sie großartig, für den Sport kann man sie gar nicht hoch genug einschätzen. Wenn sie dann noch in Russland oder Quatar stattfinden, wie will man alle Wertmessungen, die man an ihnen vornehmen kann, addieren? Und zu welchem Schluß will man kommen?

Diese Relativität der Werte vergessen wir, wenn in moralischen Zusammenhängen von Werten die Rede ist. Hier sind Werte Gesichtspunkte, die zu letztem, endgültigen Bejahen aufrufen. Man spricht von Europa als einer „Wertegemeinschaft“ und meint Positionen, von denen man in dieser Weltgegend unter keinen Umständen abrücken möchte.

Das weist auf einen tatsächlich merkwürdigen Umstand hin. Werte sind einerseits relativ, andererseits absolut. Absolut nämlich, indem man sie nur sehr schwer ablehnen kann. Kein Athlet, der Doping betreibt oder ein absichtliches Foul begeht, würde sagen, Gesundheit sei gleichgültig oder Fairness sei kein Wert. Niemand, der Olympische Spiele in einer Dikatur für sinnvoll hält, würde behaupten, dass es anders nicht besser wäre, oder würde behaupten, Rechtsstaatlichkeit sei ein Wert niederen Ranges.

Die Begründungen nehmen vielmehr kleine Umwege. Es wird beispielsweise gesagt, dass es der Beförderung von Rechtsstaatlichkeit in Diktaturen langfristig nützt, wenn diese nicht politisch isoliert werden. Oder man weist auf den Umstand hin, dass Sport ohnehin ungesund ist und das Doping auf dem jüngsten Stand der medizinischen Forschung erfolgt, oder dass die Fairness im Sinne der Chancengleichheit auch durch ganz andere Voraussetzungen des Leistungssports in Frage gestellt ist, beispielsweise durch ökonomische Entwicklungsunterschiede der am Sport beteiligten Nationen.

Wer wie Angehörige meiner Generation die Debatten um den Amateurstatus im Hochleistungssport mitbekommen hat, wird hier nicht zu vorschnellen moralischen Verurteilungen kommen. Die Geschichte von Karl Schranz hat gezeigt, wie viele Werte im Spiel sind, wenn Entscheidungen getroffen werden: die Entscheidung, die Schranz traf, und die Entscheidung, die ihn betraf.

Sie dürfen mich an dieser Stelle nicht falsch verstehen. Der Sport, dessentwegen wir hier zusammenkommen, ist nur eines von tausend Beispielen für diese Problematik. Wertwidersprüche gibt es auch auf allen anderen gesellschaftlichen Gebieten. Wir finden Freiheit wichtig und Umweltschutz, Leistungsanreize und Besteuerung, Konsum und Gesundheit. Gleiches soll gleich, Ungleiches ungleich behandelt werden. Aber alles – Menschen zum Beispiel – ist im selben Zeitpunkt gleich und ungleich. Also nützen die Werte selbst gar nicht. Wir sprechen beispielsweise davon, dass Chancengleichheit herzustellen ist. Aber wir können nicht sagen, was das genau heißen soll, wenn Menschen eine Herkunft haben, beispielsweise Familien, die sie mit unterschiedlichen Chancen ausstatten.

Auch an dieser Stelle muss einem Missverständnis vorgebeugt werden: Es geht nicht darum, dass ein Wert wie Chancengleichheit oder Freiheit keine Bedeutung hat. Es geht darum, dass wir aus den Werten selbst noch nicht die Richtigkeit unseres Handelns ableiten können.

Zum einen können wir das nicht, weil es mehrere solcher Werte gibt und weil wir in einer pluralen Gesellschaft gerade keine eindeutigen Vorfahrsregeln für den Fall haben, dass die Werte miteinander kollidieren. Selbst die Gerichte, die am Ende prüfen, welches Recht auf Wertverwirklichung in einem konkreten Fall die Vorfahrt haben sollte, kommen nicht zu eindeutigen, sondern zu verschiedenen Ergebnissen. Denken Sie nur an eines der für den Sport folgenreichsten Urteile: das Bosman-Urteil. Oder denken Sie an Karl Schranz. Oder an Claudia Pechstein. Mal hat das Individuum Vorfahrt, mal die Erfordernisse einer Organisation, mal die Meinungsfreiheit und mal der Persönlichkeitsschutz.

Wertevermittlung durch Sport ist darum nicht einfach damit getan, dass betont wird, wie wichtig „Fair Play“ und Ausdauer, Selbstüberwindung und die Fähigkeiten sind, die einem zu einem guten Verlierer machen. Wertevermittlung durch Sport ist auch das, was man erlebt, wenn man die großen Athleten verfolgt, die Leben voller Widersprüche, Höhe- und Tiefpunkte führen: Wilma Rudolph, Muhammad Ali, Dieter Baumann, Jan Ullrich. Nachdenken darüber, was es heißt, seine Biographie ganz auf eine Karte zu setzen, welche Verzichte damit einhergehen können, welche Risiken und welche Größe, das gehört auch zur Werteerziehung. Sie führt am Ende nicht auf Tugenden, sondern auf Urteilskraft, Beobachtungsgabe, Geduld und Sinn für widersprüchliche Erwartungen. So wie im Sport selbst: Was gibt es merkwürdigeres und bewundernswerteres als Leute, die in einem Wettkampf Laufen, Reiten, Fechten, Schwimmen und Schießen? Was gibt es seltsameres als Sportarten wie Baseball und Cricket, in denen die Verteidigung den Ball hat? Sport ist, mit anderen Worten, gut zum Nachdenken.

Meine Damen und Herren, Werte sind widersprüchlich, ihre Verwirklichung steht sich gegenseitig im Wege. Jemand der etwas vorträgt, kann beispielsweise den Wert seines Arguments nur auf Kosten der Freizeit und der Erschöpfbarkeit seiner Zuhörer erläutern. Also folgt man eine Weile dem Wert des Argumentierens, um dann ganz abrupt des Wert der Zeitsouveränität innezuwerden. Und an dieser Stelle hört man, aber nicht ohne für Ihre großzügige Aufmerksamkeit zu danken, am besten einfach auf.